Christin und der Fährmann

Es gab mal eine Zeit, da waren die Inseln in der Ostsee noch nicht durch Dämme oder Brücken mit dem Festland verbunden.

Damals lebte eine Mutter mit ihrem Mann und ihren drei Kindern auf der Insel Poel. Der Vater arbeitete als Zimmermann, die Mutter kümmerte sich um das Haus und die Ziegen.

Eines Tages sagte die älteste Tochter Christin: „Mama, ich möchte gern aufs Festland. Meine Freundin Kathi hat Geburtstag und sie hat mich eingeladen.“

Besorgt blickte die Mutter aus dem Fenster in den Himmel, an dem sich graue Wolken zusammenzogen.

„Es sieht so aus, als ob heute ein Sturm aufzieht. Da wäre es besser, wenn du zu Hause bleibst.“

„Ach bitte Mama, nur eine Stunde,“ bettelte Christin immer und immer wieder, bis die Mutter sich erweichen ließ und ihrer Tochter die Erlaubnis gab.

Christin machte sich auf den Weg. Bald war sie am Ufer und schlug den großen Gong an der Anlegestelle. „Fährmann hol über!“, rief sie.

Der Fährmann mit seinem dichten Bart kam, hielt am Ufer der Insel und brachte das Mädchen übers Wasser an die Anlegestelle.

Schnell sprang sie an Land und lief los. Sie hörte nicht mehr, dass er ihr zurief: „Komm nicht so spät wieder, denn es wird ein Unwetter geben!“.

Oh, es war ein wunderschönes Fest bei Kathi und die Zeit verging wie im Fluge. Es wurde schon dunkel, als sie sich auf den Heimweg machte. Kaum war sie fünf Minuten unterwegs, ging ein Unwetter los, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte. Der Sturm peitschte die Bäume so, dass sie sich gefährlich neigten. Das Wasser stürzte in Strömen vom Himmel. Christin war sofort klatschnass.

Als sie an das Ufer kam, war weit und breit kein Mensch zu sehen. Die Wellen der Ostsee waren so hoch, dass die Insel nicht zu sehen war.

Mit großer Kraft schlug Christin auf den Gong, formte ihre Hände zu einem Trichter vor ihrem Mund und rief mit lauter Stimme: „Fährmann hol über!“

Doch keiner kam.

Immer und immer wieder schlug sie den Gong.

Immer und immer wieder rief sie: „Fährmann hol über! Fährmann hol über!“

Es antwortete ihr nur der tosende Sturm mit seinem Heulen.

Die Mutter würde sich sicher große Sorgen machen. Christin warf sie sich in das nasse Gras, schlug die Hände vors Gesicht und fing bitterlich zu weinen an.

Plötzlich hörte sie etwas. Ganz leise hörte sie es, neben ihrem Ohr. Es war wie ein wispern und piepsen. Sie nahm die Hände vom Gesicht, drehte ihren Kopf und sah ein Vogelnest neben sich, in dem ein kleiner Vogel versuchte drei winzige Küken mit seinen Flügeln zu bedecken. Alle waren klatschnass.

Schnell nahm sie das Nest ihn in die Hand und schob es unter ihre Jacke.

„Na, du kleiner nasser Spatz, versuchst du deine Jungen schützen?“ fragte sie.

„Ja, du großer Spatz,“ gab der Vogel zurück.

Vor Schreck hätte sie das Nest beinahe fallen lassen. „Du kannst sprechen?“, staunte Christin.

„Na, du doch auch. Warum weinst du eigentlich?“ fragte der Vogel.

„Weil der Fährmann nicht hört, wie ich rufe. Ich muss auf die Insel. Meine Mutter macht sich sicher schon Sorgen.“

„Na gut, wenn du auf meine Kleinen aufpasst, fliege ich rüber und hole den Fährmann.“

„Ist das nicht zu gefährlich? Aber, wenn du glaubst, dass du das kannst, passe ich gern auf deine Kinder auf.“

„Ich bin bald wieder da“, piepste der Spatz schwang sich in die Höhe und kämpfte tapfer gegen den Sturm an.

Obwohl es unmöglich schien, schaffte er es zum anderen Ufer, setzte sich auf das Fensterbrett vom Haus des Fährmanns und klopfte mit seinem kleinen Schnabel gegen das Holz der Fensterläden.

Leider vergebens. Zu leise war sein Geklopfe. Keiner hörte ihn. Ratlos wollte er aufgeben und zurückfliegen. Schon schwang er sich in die Lüfte, als er auf der Wiese neben dem Haus drei große weiße Vögel entdeckte.

Es waren seine Freunde, die wilden Schwäne. Schnell flog er hin und erzählte ihnen, wie das Mädchen, ihn und seine Kinder vor dem sicheren Tod durch Ertrinken gerettet hat. „Bitte helft mir, den Fährmann zu rufen“, piepste er.

Sofort flogen die Schwäne zum Haus und klopften alle gemeinsam mit ihren großen Schnäbeln an die Fensterläden.

„Was ist das für ein Krach“, brummte drinnen der Fährmann und öffnete das Fenster. Fast wäre ihm seine teure Meerschaumpfeife aus dem Mund gefallen, als er die Vögel sah. „Was wollt ihr denn hier?“, fragte er die Schwäne.

Die zeigten mit ihren Schwingen auf den kleinen Vogel, der auf dem Fensterbrett saß und ihm zu wisperte: „Christin, sie steht drüben am Ufer. Kannst du sie holen?“

Der Fährmann staunte nicht über den sprechenden Vogel, denn er hat in seinem langen Leben schon viele wundersame Sachen gesehen. Er nickte nur bedächtig. „Dann wollen wir mal“, sagte er, steckte sich die Pfeife in den Mund, zog sich den Südwester über, schlüpfte in die Gummistiefel, steckte den kleinen Vogel in seine Brusttasche und schlurfte zum Ufer.

Mit aller Kraft kämpfte der Fährmann tapfer gegen die tosenden Wellen. Als er endlich am gegenüberliegenden ankam legte sich endlich der Sturm und die Sonne lugte zaghaft hinter den Wolken hervor.

Glücklich war der kleine Vogel, als er seine Jungen wieder sah und glücklich war auch Christin, dass sie zurück nach Hause kam. Am aller glücklichsten aber war die Mutter, weil sie ihre Tochter gesund in die Arme nehmen konnte.

Das Vogelnest mit den Küken fand einen Platz im warmen Ziegenstall, und jeden Tag legte Christin ihrem neuen Freund ein paar Körnchen hin.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert