Tschitscheringrün

Es ist ein lieblicher Sommertag. Ein sanfter Wind spielt mit den Blättern der Bäume und die Sonne zeichnet bizarre Schatten auf die hellen Seidengardinen.
Völlig apathisch liegt die Mutter mit blutunterlaufenen Augen in ihrem Bett.

Das Nachthemd ist vom Schweiß klatschnass und das Haar klebt ihr in Strähnen im Gesicht. Eine Virusinfektion – hatte der Arzt diagnostiziert und das Seuchenamt hat angeordnet, dass  die ganze Familie zu Hause bleiben muss. Selbst Klein-Luci darf nicht in den Kindergarten und keiner weiß, ob sie in fünf Wochen eingeschult werden kann.
Ihre beiden größeren Geschwister sitzen den ganzen Tag mit Kopfhörern vor dem Computer und beschäftigten sich mit Ballerspielen. Der Vater werkelt im Keller, nach dem er Klein-Luci vor den Fernseher gesetzt hat.Aber Luci will nicht fernsehen. Sie läuft hinaus in den Garten und pflückt ein paar Blumen.
„Die habe ich für dich geholt Mama“, sagt sie und legt die Blumen auf das Bett.
Kraftlos hebt die Mutter die Hand um sie gleich wieder fallen zu lassen.
„Danke Luci“, flüstert sie. „Ach dieser schmutzige Virus. Er zerstört unser ganzes Leben. Wenn ich nur wüsste, was man dagegen machen kann. Ich bin so müde. Lass mich ein wenig schlafen.“
Klein-Luci verlässt das Schlafzimmer, geht in die Küche und setzt sich an den Tisch. Wie immer, wenn sie nachdenkt, legt sie den Finger an den Mund.
Wenn das Virus schmutzig ist, dann muss man es sauber machen, denkt sich Klein-Luci. Oma hat einmal zu Mama gesagt, dass Essigessenz und Backpulver genauso gut sauber machen, wie Rohrreiniger und Meister Propper. Also holt Klein-Luci Rohrreiniger und Meister Propper aus dem Bad. Dann nimmt sie die Flasche mit Essigessenz und ein Päckchen Backpulver.
Papa hat gesagt: „Wodka und Whisky sind richtige Rachenputzer.“
Und putzen ist gleich sauber machen, denkt Klein-Luci und holt noch schnell eine Flasche Wodka und eine Flasche Whisky aus der Hausbar.
Dann nimmt sie ein großes Glas aus dem Schrank und schüttet die ganzen Sachen rein, mischt und rührt und als es endlich aufgehört hat zu schäumen, geht sie in das Schlafzimmer.
„Trink, Mama“, sagt Klein-Luci und hält der Mutter das Glas hin.
Kraftlos öffnet diese ihre Lippen. Klein-Luci legt ihre kleine Hand unter den Kopf der Mutter, hebt ihn an und sagt so streng wie Papa: „Und jetzt alles auf ex.“
Gehorsam trinkt und trinkt die Mutter. Plötzlich zuckt ein Blitz durch ihren Körper. Gleißendes Licht erhellt für einen kurzen Moment das Zimmer. Die Mutter schnellt hoch, sitzt steif und aufrecht im Bett. Ihre Augen flutschen aus den Höhlen, die Haare stehen ihr zu Berge und ihre Haut verfärbt sich tschitscheringrün. Ein markerschütternder Schrei hallt durch das Haus. Fasziniert blickt Klein- Luci auf ihre Mutter und was jetzt geschieht, ist kaum zu glauben. Überall sprießen kleine pinkfarbene Dornen aus der Haut der Mutter und kurze Zeit später entfalten sich auf deren Enden kleine Kronen.
„Du siehst aus wie eine Königin, Mama!“, ruft Klein-Luci begeistert. „So viele Kronen!“
Die Mutter sieht an sich herunter. „Oh mein Gott! Was passiert hier mit mir! Was sind das für Kronen. Um Himmels Willen!“ Hysterisch schreit sie: „Ich glaube das Virus – das Virus – es mutiert.“
Die Kronen wachsen sehr schnell zu einer Größe von zehn Zentimetern an. Klein-Luci sieht das und gleich weiß sie, dass sie etwas tun muss. Und sie hat eine Idee. Jetzt  hält sie nichts mehr. Sie läuft in den Garten und holt die Kettensäge aus dem Schuppen. Zum Glück ist es eine Akkukettensäge. Klein-Luci schaltet die Säge an und schneidet der Mutter die ganzen Kronen ab. Glücklicherweise fließt wenig Blut.
Aber, was ist das? Auf einmal sind lauter Löcher in der Haut.
„Es tut so weh!“, klagt die Mutter.
Klein-Luci weiß sich sofort zu helfen. Sie läuft in den Keller. Der Vater hat durch die Ohrschützer gar nichts mitbekommen. Er schleift munter weiter an dem alten Schränkchen rum und pfeift vor sich hin. Klein-Luci nimmt ein großes Glas Honig aus dem Regal und läuft nach oben. Die Mutter hat sich keinen Zentimeter bewegt. Klein-Luci holt aus ihrem Tuschkasten den größten Pinsel und dann beginnt sie sorgfältig jedes Loch auf der Haut der Mutter einzupinseln.
„Der Honig tut gut“, sagt diese.
Das finden aber leider auch die Wespen, die rudelweise reingeflogen kommen und sich auf den honigsüßen Körper der Mutter setzen.
„Du musst in den Garten gehen“, sagte Klein-Luci. „Ich werde die Wespen mit dem Gartenschlauch abspritzen.“
Gesagt, getan. Kurz darauf steht die Mutter splitterfasernackt zwischen den Blumen. Klein-Luci läuft los um den Schlauch zu holen, als sie plötzlich ein tiefes Brummen hört.
Das klingt so furchtbar, dass sie vor Schreck stehen bleibt und in die Richtung blickt, aus der das Geräusch kommt. Ein riesengroßer schwarzer Bär landet mit einem Fallschirm im Garten. Er läuft durch das Erdbeerbeet direkt auf sie zu. Klein-Luci kann sich nicht bewegen.
Doch der Bär interessiert sich nicht für Klein-Luci. Er nähert sich zielstrebig der Mutter und beginnt friedlich brummend den Honig mit den Wespen von ihrem Körper abzuschlecken.
„Das tut gut…“, murmelt sie.
Die weiche Bärenzunge besänftigt ihren Wundschmerz.
„Ich bin so müde“, sagt die Mutter zu dem Bären, der sie sich daraufhin kurzerhand unter den Arm klemmt und sie in sein Nest trägt.
Erstaunlicherweise liegen hier schon einige Menschen mehr rum, die alle diese tschitscheringrüne Haut und die wunderlichen kleinen Hautöffnungen am Körper haben, und zum Teil nur noch Körperteile, wie sie entrüstet feststellt. Doch bevor die Mutter sich ihrer Lage ganz bewusst ist, steht schon Klein-Luci mit der Kettensäge hinter dem Bären und schaltet sie an. Als dieser das laute Sägegeräusch wahrnimmt, springt er auf, rennt zu seiner Bärenkutsche und braust mit 180 Sachen davon.
„Kommt mit!“, ruft Klein-Luci den Überlebenden zu.
Diese strömen alle aus dem Nest.
„Du bist unsere Heldin, du hast und erlöst“, rufen sie.
Doch hinten in der linken Ecke kauert noch eine kleine weißhaarige Frau. Schützend hält sie die Hände über dem Kopf.
„Du brauchst keine Angst haben“, sagt Klein-Luci zu ihr. „Komm nur.“
Sie hilft der Weißhaarigen beim aufstehen und stützt sie bis sie draußen sind.
Auf einmal schreien die Überlebenden: „Die Queen! Das ist die Queen!“
Und tatsächlich, es ist die Queen.
Und eine Woche später, in England, kniet Klein-Luci im Thronsaal vor der Königin.
Diese spricht: „Du hast mir das Leben gerettet Klein-Luci. Dafür bekommst du unsere höchste Auszeichnung; den Hosenbandorden.“
Obwohl Klein-Luci keine Hosen anhat und somit auch kein Hosenband, hängt ihr ein steifer Mann mit Perücke und Uniform einen Orden an.
„Außerdem schlage ich dich zum Ritter“, sagt die Queen und hebt ein Schwert hoch.
Das Schwert rutscht ihr aus der Hand und knallt Klein-Luci auf die Schulter. Sofort ergießt sich das Blut in Strömen und Klein-Lucis rechter Arm fällt der Queen vor die Füße.
„Ach du Scheiße!“, schreit die erschrocken.„Holly Shit, Jungs!“, ruft sie ihren Dienern zu: „Besorgt mir schnell UHU! Wir brauchen unbedingt UHU! Denn im Falle eines Falles UHU klebt alles!“

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