Emmas Geheimnis

“Haste Igelit im Haus, kannste auch bei Regen raus! Von wegen!“

Margot schnaubte vor Wut.


“Jetzt sind auch meine letzten Strümpfe kaputt. Wie kann man nur aus Kunststoff und Leinen Schuhe herstellen?! Ich hasse diese Dinger!
Von der Farbe ganz zu schweigen! Modisches Kackbraun! Trägt jede Frau in der DDR. Ja klar, gibt ja auch keine anderen. Wieso haben wir dreizehn Jahre nach Kriegsende nicht auch so schöne Schuhe, wie die im Westen?
Aber nein; in Igelit und Lederol, da fühlt sich jeder Zoni wohl!“
Horst hatte sich hinter seiner Zeitung versteckt und ertrug geduldig den Wortschwall seiner Angetrauten.
“Nun sag doch auch mal was, Horst. Findest du das schön?“ Sie streckte ihm ihr beschuhtes Bein entgegen.
Er blickte auf. “Ich liebe deine Beine.“
“Doch nicht die Beine, die Schuhe.“
“Ja, ja, du hast mich schon überredet. Das Gejammer kann doch keiner ertragen. Fahr nach Westberlin und kauf dir ein paar Schuhe.“

Horst zückte seine Geldbörse und gab ihr einhundertfünfzig Mark.

“Wenn du das Geld tauschst, müsste es für ein paar Schuhe reichen. Versteck es aber gut, nicht das sie es dir an der Grenze abnehmen.“
Margot fiel ihrem Mann vor Freude um den Hals. Dann begann sie Pläne zu schmieden.
“Kirsten“, sagte sie schließlich zu ihrer Vierjährigen. “Ich brauch neue Schuhe, und damit uns keiner das Geld wegnimmt, müssen wir´s verstecken. Ich habe gedacht, dass deine Emma darauf aufpassen kann.“
“Die Emma?“ Kirsten guckte mit großen Augen auf ihre Puppe. “Aber wie soll die denn…?“
“Ich packe es in ihren Kopf und du passt auf Emma auf. Machst du das?“
Natürlich war Kirsten stolz, dass sie helfen durfte.
Am nächsten Tag ging die Fahrt mit dem Vorortzug nach Falkensee. Dort mussten alle Passagiere aussteigen und in einer Baracke auf die Zollabfertigung warten. Die Schlange vor Margot wurde immer kürzer und ihre Angst immer größer.
“Ausweis“, sagte der Vopo.
Sie reichte ihm den Ausweis.
“Grund der Reise nach Westberlin?“
“Wir besuchen meine Schwester.“
“Öffnen Sie die Tasche.“
Margot tat wie ihr geheißen. Der Polizist wühlte in der Handtasche, zog zuerst eine Rolle Drops heraus, dann einen gebogenen Haarkamm, betrachtete ihn mit kritisch gerunzelter Stirn und steckte ihn wieder hinein. Als er mit der Durchsuchung fertig war, sah er Kirsten an.
Ängstlich drückte die Kleine ihre Puppe an sich.

“Meine Emma geb ich dir nicht“, erklärte sie trotzig. “Da ist nämlich das Geld für Muttis Boogie-Boogie-Schuhe drin.“
Margot wurde kreideweiß.
Verdutzt schaute der Polizist in die mit Tränen gefüllten Augen des kleinen Mädchens. Dann blickte er fragend zu Margot auf. Sie hielt die Lippen fest zusammengepresst, damit sie nicht zitterten. Am liebsten hätte sie auch geheult. Über Kirstens Gesicht rannen zwei dicke Tränen.
“Na, du machst mir vielleicht Witze!“, sagte der Polizist mit strenger Miene. “Mit sowas scherzt man doch nicht!“
Dann hob er die Schranke und schob die Kleine hindurch.
“Gehen Sie weiter!“, sagte er laut zu Margot. Und als sie an ihm vorbeiging flüsterte er ihr zu: “Verraten Sie Ihrem Kind um Himmels Willen nie wieder, wo Sie etwas verstecken!“

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