Alles eine Frage der Erziehung

Alles eine Frage der Erziehung

“Morjen, Erna.“
Die Buttge stieg in den ersten Waggon der U-Bahn.
“Hat doch jut jeklappt mit unsere Verabredung.“

Sie ließ sich auf den Sitz fallen.
“Na, warum ooch nich?“, gab Erna zurück.
“Wat für ’n Wetter!“
Die Buttge lehnte den Regenschirm an die Bank.
“Da jagt man keen Hund vor de Tür, aber du musst ja unbedingt ins KaDeWe!“
“Hättest ja absagen können.“
“Nee, schon jut, Erna. Man jönnt sich ja sonst nüscht.“
Die Buttge rückte ihren Hut zurecht und sah sich um.
“Wat für Jestalten heutzutage rumloofen. Kiek mal, den Tätowierten da. Wat hat der denn inne Ohren? Det sind ja Riesenlöcher! Brauchste bloß een Strick durchschieben, schon kannst ’n uff de Weide führen.“
“Und die Hosen haben ooch lauter Löcher.“ Erna verzog das Gesicht. “Det is bestimmt een Penner.“
Der junge Mann griff in seinen Rucksack und holte ein Buch heraus.
“Erna, ick gloobe, Penner lesen nich“, bemerkte die Buttge.
Der Lesende blickte auf und musterte sie.
“Nich so laut!“, warnte Erna erschrocken.
Gegenüber trampelte ein kleiner Junge aufgeregt mit seinen Gummistiefeln auf dem Sitz herum.
“Sonne! Sonne!“
Stolz zeigte er auf die beschlagene Scheibe, wo seine kleinen Finger einen Kringel mit langen Strichen gemalt hatten.
“Mama, Mama, guck mal!“
Er zerrte an der Jacke der Mutter.
Die blickte unwillig von ihrer Zeitschrift hoch und schob die rote Lockenpracht aus dem Gesicht: „Mhm, schön.“
Der Kleine hopste auf der Bank herum.
“Jetzt mal ich ’ne Blume!“
Die Mutter blätterte gelangweilt in ihrer Illustrierten.
“Meinen Se nich, dass det besser is, wenn det Kind sich hinsetzt? Wenn die Bahn bremst, knallt der Kleene runter.“ Die Buttge war empört. “Außerdem macht er die Bank dreckig. Da wollen ooch noch andere sitzen!“
Die Rothaarige hob den Blick von ihrer Zeitschrift.
“Schon mal was von antiautoritärer Erziehung gehört, Oma?!“
“Det kann ja nich wahr sein“, sagte die Buttge peinlich berührt.
Sie schaute zu Erna, sah sich in der Bahn um.
Der Tätowierte mit dem Buch kaute auf seinem Kaugummi herum.
Die Frau ihm gegenüber wandte den Kopf ab und blickte demonstrativ in eine andere Richtung.
“Wat soll bloß aus unserm armen Vaterland wer’n, wenn de Jör’n immer machen können, wat se wollen?“, entrüstete sich die Buttge.
„Nächster Halt Kurt-Schumacher-Platz“, schnarrte es aus dem Lautsprecher.
Der Tätowierte stand auf, schwang sich den Rucksack über die Schulter und ging zur Tür.
Im Vorbeigehen kam er der Buttge so nahe, dass sie unwillkürlich zurückfuhr.
Irritiert blickte sie zu ihm auf.
Er hob die gepiercten Augenbrauen und nickte ihr freundlich zu.
Der Zug hielt, die Tür öffnete sich.
Der junge Mann nahm den Kaugummi aus seinem Mund und drehte ihn in die Lockenpracht der Rothaarigen.
„Ich wurde auch antiautoritär erzogen“, sagte er grinsend und stieg aus.

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